Eine steile, grasbewachsene Küste, das Rauschen des Meeres im Hintergrund. Der Geruch von Sommerwiese liegt in der Luft. Und dazu noch die unzähligen Schafe, wohin ich nur schaue. Von weitem sehe ich in der Herde eine Person stetigen Schrittes die Hänge hochlaufen. Erst bei näherem Hinsehen merke ich: Dies ist kein gewöhnlicher Schäfer. Gekrümmter Rücken, wettergegerbte Haut. ‘Wie kann er das in diesem Alter noch schaffen?’, denke ich leise nach…

Die Netflix-Mini-Serie ‚Wie wird man 100 Jahre alt?‘ untersucht genau diese Frage. In vier Episoden geht Autor Dan Buettner in verschiedene Regionen der Welt, in denen besonders viele Menschen über 100 Jahre alt werden. Während ich die zweite Folge über Schäfer:innen auf Sardinien schaute, kam für mich eine weitere Frage auf: Was hat die Art des Berufes mit Stressmanagement zu tun? 

Für Dich möchte ich eine kurze Einordnung in die Grundlagen der Stressforschung machen, bevor wir uns anschauen, warum die meisten Menschen in der Wissensarbeit heute nicht mehr wie Schäfer:innen arbeiten. Zuletzt gebe ich Tipps und Methoden zum besseren Stressmanagement für nicht Schäfer:innen.

 

Wie wirkt Stress auf den menschlichen Körper?

Stell Dir vor, du bist zurück in einer Stadt und du möchtest die Straße überqueren. Überall Menschen, ein Haufen Autos flitzen an dir vorbei. Du setzt einen Fuß auf die Straße und plötzlich kommt ein übersehenes Auto blitzschnell angefahren und hält mit quietschenden Reifen gerade noch so an. Das moderne Pendant zum Angriff eines natürlichen Feindes. 

Der Atem stockt für einen Moment, Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet. Hormone, die den Herzschlag erhöhen und durch schnelles Atmen und erhöhte Sauerstoffaufnahme wieder mehr Energie erzeugen. Unseren Vorfahren dienten diese Reaktionen bei natürlichen Stresssituationen, zum Beispiel um dem Wolf zu entkommen oder ihn zu bekämpfen. Fight or Flight, englisch für Kampf oder Flucht.

inside view of human body veins with visible particles of hormones rushing through

Cortisol pumpt auch durchs Blut und regt den Zuckerhaushalt in Form von Glukose an, damit das Hirn schnell Energie bekommt. Das Hormon fährt allerdings auch Systeme herunter, da sie nicht für das direkte Überleben wichtig sind, wie das Immunsystem, Verdauung und Reproduktion. Im Stressfall genau das Gegenteil von Rest and Digest, also Entspannen und Verdauen. 

 

Was hat das Ganze mit Schäfer:innen zu tun?

Auch Schäfer:innen haben manchmal Stress und reagieren wie in der oben vereinfacht dargestellten Form körperlich. Schafe bocken beim Scheren des Fells, Zäune brechen. Allerdings sind die Herausforderungen und Stresssituationen der Schäfer:innen oft kurzweilig und selbstständig durch manuelles Arbeiten lösbar. Der gesunde Körper reguliert sich dann selbst wieder herunter und die Stresssituation wird – auch hormonell gesehen – wieder gelöst. Sorgen über die Arbeit werden so seltener in den Feierabend übertragen

Die meisten unter uns sind aber keine Schäfer:innen, denn in Deutschland gelten mittlerweile über die Hälfte der Erwerbstätigen als Wissensarbeiter:innen. Das bedeutet einerseits viel soziale Interaktion, Abstimmungen mit Kolleg:innen oder Gespräche mit der Kundschaft. Andererseits heißt Wissensarbeit auch langwierige Denkprozesse, die in mehr Wissen resultieren. Das betrifft neben Programmierenden und Projektmanagern auch Vertriebsangestellte, Finanzpersonal und Führungskräfte. 

business meeting of IT programmers and project managers at a big modern table in modern IT company offices

 

Natürlich ist Kritik am Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, Führungsstil, Umgang mit Emotionen und vielem mehr durchaus angemessen, allerdings nicht eigenhändig und sofort zu verändern, weshalb ich hier nicht näher darauf eingehen werde. 

Wenn Du über Stress, Unternehmenskultur und Change Management in deinem Unternehmen sprechen möchtest, melde Dich gerne bei mir.

Wo liegt nun der Haken bei der Wissensarbeit?

Problematisch wird es, wenn der Körper dauerhaft einer ständigen Überflutung durch Adrenalin und Cortisol ausgesetzt ist. 

Nächstes Meeting in 30 Sekunden. Dann noch diese Deadline heute Abend. Mist, dieser verdammte Code macht nicht das, was ich möchte. Whatsapp und der Teamkanal klingeln die ganze Zeit. Wenn ich mich jetzt beim Mittagessen beeile, komme ich vielleicht noch zum Sport und früher nach Hause. 

highly stressed office worker in front of his laptop with cell phone ringing and a sports bag next to him

Zuhause angekommen, denken wir dann allerdings weiterhin über diesen Code oder über das Meeting nach. Der Körper kann sich selbst im Feierabend nicht entspannen, also ist muskuläre und psychische Anspannung angesagt. Schmerzen verschiedener Arten, Nervosität und Schlaflosigkeit können die Folge sein. Wir kommen nicht von der Fight or Flight Reaktion weg zum Rest and Digest, sondern sind den Stresshormonen ausgesetzt, als stünde ständig der Wolf vor uns. Erholung adieu, Verdauung Fehlanzeige. 

Chronischer Stress: Der Staatsfeind Nr.1 und das Sündenschaf für alle Mediziner:innen, die nicht mehr weiter wissen. Hat dein Arzt dich auch schon mal gefragt, ob du gerade viel Stress hast? 

Welche Maßnahmen gegen chronischen Stress können wir uns also von Schäfer:innen abgucken?

1. In den Flow kommen

Die meisten Aktivitäten in der Wissensarbeit sind einfach nicht durch Handarbeit lösbar, wie das Scheren des Schaffells oder die Reparatur des Zauns. Wir können manuelle Erfolgserlebnisse allerdings in Hobbies suchen und ausüben, ob beim Handwerken, Gärtnern, Töpfern, Origami falten oder Kochen. Am Ende sehen wir dann, und fühlen mit den Händen, dass wir etwas geschafft haben. Im wahrsten Sinne erschaffen. Und auf das Ergebnis können wir dann stolz sein. 

Wenn es um reine Wissensarbeit geht, lohnt es sich, neurowissenschaftliche Erkenntnisse über Denkprozesse anzuschauen. Ein Konzept daraus ist der sogenannte Flow. Im Englischen eigentlich Fluss oder Strömung, wird psychologisch aber für Bei-Sich-Sein verwendet. Wir gestalten das Umfeld und unser Mindset so, dass wir in einen Denkfluss kommen, der durch Kreativität gesteuert und nicht durch Stress gehindert wird. So können sich zwei Stunden plötzlich wie 10 Minuten anfühlen. 

highly focused but peaceful face female office worker looking at his laptop in front of him, hands on the keyboard, in quiet green office environment, headset with music on his head

Ich setze das konkret wie folgt um: instrumentale Fokus-Musik auf die Ohren, Handy lautlos und umgedreht auf den Tisch, Pomodoro einschalten und ab geht die Post. Pomo-, was??? Dabei handelt es sich um eine Zeitmanagement-Technik, in der drei Runden à 25-45 Minuten im Flow gearbeitet wird. Online findest Du hierzu mehrere Timer, die das Zeitmanagement für Dich übernehmen, damit Du in den Flow kommen kannst.

2. Wir brauchen Pausen 

Zwischen den Flow-Runden wird dann fünf Minuten geruht. Die romantisierte, bildliche Vorstellung eines Schäfers ist nämlich nicht bei der Zaunreparatur, sondern mit einem Hut im Gesicht, liegend im Schatten eines Baums. Die Pausen dienen vor allem dazu, dem Denkorgan Zeit zu geben, sich zu erholen. Nicht das rationale Hirn weiter anstrengen, das gerade schon so viel geleistet hat, sondern wirklich zur Ruhe kommen.

highly peaceful office worker with headset on his head under the shade of a tree with sheep in the background in mediterranean climate

Achtung: ohne Handy oder eMails! Vielleicht stattdessen mit folgendem Tipp.

3. Fokus auf Sinneswahrnehmung 

Wir müssen dem Gehirn eine Aufgabe geben, sonst wird es sich eine finden. Hierbei helfen Übungen, die einige von euch sicherlich aus der Achtsamkeit kennen. Eine konkrete Übung nennt sich 5-4-3-2-1. Ich nenne sie den Sinnes-Countdown. Mach direkt mit.

Welche fünf Dinge sehe ich gerade? Welche vier Geräusche höre ich? Welche drei Dinge fühle ich gerade mit der Haut, mit dem Tastsinn? Welche zwei Gerüche rieche ich? Was schmecke ich?

Halte hier an. Lies nicht weiter. Mach kurz die Übung, damit du die Erfahrung machst, es kostet dich nur 30 Sekunden. Später wird es dir leichter fallen, spontan an den Sinnes-Countdown zu denken, wenn du ihn brauchst. 

Dies kann auch in akuten Stresssituationen helfen, wenn wir uns etwas überlastet fühlen. Oft sind wir in Gedanken schon viel weiter und stellen uns die Sache viel schlimmer vor, als es die tatsächlichen Gegebenheiten hergeben. Evolutionstechnisch war das vielleicht Mal ein Vorteil, weil negative Gedanken und Gegenmaßnahmen uns beim Überleben geholfen haben. Deshalb empfinden viele Menschen heute so. In der modernen Welt leider nicht immer hilfreich, erst Recht nicht im Arbeitsalltag. 

Für eine etwas längere Anleitung des Sinnes-Countdowns gibt es für Abonnenten schon in der eMail eine 5 Minuten-Audiodatei zum Download oder zum direkten Anhören im Browser. Melde dich gern zum Newsletter an und ich schicke dir die Datei nach. Auch nächstes Mal gibt es wieder ein Goodie!

4. Visualisierung gegen Work-Life-Blending

Um im Feierabend den Abend feierlich genießen zu können und nicht an den Arbeitstag denken zu müssen, kann eine routinierte Visualisierungsübung helfen. Mehrere neurologische Studien haben gezeigt, dass Visualisierungsübungen direkt Hirnareale aktivieren und die Leistung steigern können. Hier deshalb zum Beispiel meine:

Ich fahre nach einem langen Arbeitstag auf meinem Fahrrad den Rhein entlang zurück nach Hause, bis ich zur Brücke komme. Vor der Brücke, da ist Arbeitsterritorium. Auf der anderen Rheinseite, da ist mein Privatleben. Deshalb werfe ich immer an derselben Laterne alles Gepäck, das ich nicht zuhause haben möchte, in den Rhein! Meetings, weg! Das blöde Gespräch, hinfort mit dir! Ich stelle mir wirklich vor, wie ich Häufchen wegwerfe. Alles den Rhein herunter. Bis morgen fließt hier nämlich noch viel Wasser herunter. Auf der anderen Seite angekommen, steht dann ein Gebäude, an dem ich immer anfange, mich auf meinen Atem zu konzentrieren und fahre etwas leichter nach Hause.

Wo fährst Du täglich vorbei? Welche Anker entlang des Weges können dich daran erinnern, deine Häufchen wegzuwerfen? 

Arbeitest Du vom Home Office aus, können andere Anker oder Aktivitäten helfen. Eine physische Trennung von Arbeitsequipment und Privatleben können hier dienen. Täglich den Computer auf- und abbauen, und mit jedem Kabel, das ausgesteckt wird, auch deinem inneren Arbeitstier ein Kabel rausreißen. Lass deiner Fantasie freien Lauf und erfinde eine eigene Visualisierung, die dir entspricht und passt!

a female office worker has three cables coming out of her shoulder and she is pulling them out. She is in her home office and finishing her work day, so she has a calm but happy face

5. Circle of Control, alles andere Inschallah

Zuletzt eine etwas philosophische Sache. Im Arbeitsstress kann es helfen, sich zu vergegenwärtigen, was wir tatsächlich kontrollieren können, was wir beeinflussen können, und was nicht. Wir können unsererseits unser Bestes tun und in allen Aktivitäten alles geben, aber es gibt vieles, das sich außerhalb unseres direkten Einflussbereichs befindet: unbekannte Menschen, das Wetter, das Weltgeschehen, etc. Nicht zu Unrecht gibt es selbst im deutschen Recht den Begriff der höheren Gewalt. Im Arabischen gibt es den mittlerweile in vielen Sprachen bekannten Ausdruck Inschallah, oder So Gott will. Damit akzeptiert die aussprechende Person, dass sie nicht die Verantwortung über alles hat und kann aufhören, über ein gewisses Thema weiter nachzudenken, nachdem sie bereits alles gegeben hat. 

the silhouette of a person is hovering in front of a unicolor background. Like an onion, there are three transparent bubbles, one bigger than the other around the silhouette

mit Achtung, mein Newsletter, meine Meinung: Eben erläutertes bedeutet keineswegs, dass wir uns machtlos im egozentrischen Opferkomplex wälzen sollten. Es gibt sehr wohl Dinge, die wir kontrollieren oder beeinflussen können. Dies gilt übrigens nicht nur für Dinge im Arbeitsalltag, sondern auch im Privatleben, in der Nachbarschaft, der Gesellschaft und den Planeten. JEDER aufgehobene Zigarettenstummel verseucht das Grundwasser nicht, JEDES Ehrenamt hilft in irgendeiner Art und JEDE politische Beteiligung kann etwas bewegen. Als Teil von etwas Größerem können wir sehr wohl das Große beeinflussen! Allerdings liegt die Magie für unsere mentale Gesundheit darin, sich über den feinen Unterschied zwischen Kontrolle, Einfluss und Inschallah bewusst zu werden. 

Bin ich damit nun perfekt gegen Stress ausgerüstet?

Ich weiß nicht, ob meine Annahmen wirklich dem Leben aller Schäfer:innen entspricht, aber so stelle ich es mir zumindest historisch gesehen in etwa vor. Wir leben in einer absurden Welt und keiner gibt uns eine Anleitung, wie wir unser Leben zu führen haben. Wenn wir ein gesünderes, vielleicht auch ein glückliches Leben führen wollen, dann lohnt es sich, den Umgang mit Stress zu verbessern. Unsere Arbeitsweise kann hinterfragt, unser Zeitmanagement z.B mit Pomodoro verbessert werden. Wir können spontan Achtsamkeitspraktiken wie den Sinnes-Countdown anwenden oder generell unser Mindset zu unserer Wirksamkeit mit dem Circle of Control betrachten. Die fünf Tipps sind natürlich selektiv und generalisiert – ein volleres Bild mit mehr passenden Übungen und langfristigen Veränderungstipps geben meine Trainings. Auch im nächsten Newsletter werde ich wieder über biologische Prozesse sprechen und Übungen anbieten, also bleib gespannt!  

Wenn du bis dahin über deinen persönlichen Umgang mit Stress sprechen möchtest, kontaktiere mich unverbindlich!

Im Text verwendete Quellen und Konzepte:

Inspiriert durch Netflix Serie Wie wird man 100 Jahre alt?

Eigene Erfahrung

MedicalNewsToday (2024) – What is chronic stress and what are its common health impacts? 

Ranabir und Reetu (2011) – Stress and hormones

WebMD (2022) – What is Cortisol? 

University of Victoria (2021) zu Stephen Coveys Circle of Control

Psychology Today (2009) – Seeing Is Believing: The Power of Visualization

Bildquellen: Bing KI Image Generator

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Ob Arzt oder Therapeut, Stress war die ultimative Erklärung für jegliches Leid. Wie aber findet der gestresste, moderne Mensch den Weg heraus? Cache Clearing ist angesagt! In diesem monatlichen Newsletter werde ich auf die Erfahrungen meines eigenen Weges zurückgreifen und meine Gedanken, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden zum gesünderen Umgang mit Stress für Developer und Projektmanager teilen.

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Als Stress Management Trainer und Coach helfe ich Mitarbeitenden und Führungskräften in Tech-Unternehmen dabei, resilienter im Umgang mit den immer häufiger auftretenden Stressfaktoren des modernen Lebens umzugehen. Ebenso begleite ich Veränderungsprozesse für eine stressfreiere Unternehmenskultur.